Pflegenotstand ist hoch aktuell und nicht neu – genau wie Care-Migration
Bereits während des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg, zwischen den 50er- und 70er Jahren, fehlten der Bundesrepublik perspektivisch bis zu 250.000 Menschen im Pflegesektor. Weil die Situation bei den europäischen Nachbarstaaten ähnlich aussah, wurden weiter entfernte Länder aufgesucht, um Arbeitskräfte zu finden.
Die Anwerbung ging von Privatpersonen, kirchlichen und staatlichen Institutionen aus. Die Krankenschwestern kamen vor allem aus drei asiatischen Ländern: Südkorea, den Philippinen – und Indien.
In allen drei Fällen waren es junge Frauen, häufig die ältesten der Familie und gerade mit der Schule fertig, die ihr Heimatland zuvor nie verlassen hatten. Mit ein paar Kleidern im Koffer, der Aussicht auf eine gute Ausbildung und bessere Bezahlung betraten sie Flugzeuge und Schiffe, die sie in eine andere Welt brachten. Aus Südkorea emigrierten 10-12.000 Menschen nach Deutschland, aus den Philippinen um die 3.000.
Aus Indien kamen geschätzte 6.000 junge Frauen, um sich zu Pflegekräften und Krankenschwestern ausbilden zu lassen. Sie alle stammten aus dem südindischen Staat Kerala, in dem die numerisch größte Zahl katholischer Christen im Land lebt. Die meisten von ihnen wurden von konfessionellen Krankenhäusern oder Institutionen angeworben, die sich vor Ort um ihre Ausbildung und Unterbringung kümmerten.
Viele Krankenschwestern waren auf Basis von zeitlich begrenzten Verträgen eingereist. Als diese ausliefen, mussten sie die Bundesrepublik verlassen. Die wirtschaftliche Rezession infolge der Ölkrise hatte zudem zu Kosteneinsparungen im Gesundheitssektor geführt und Pflegestellen reduziert. Manche Krankenschwestern wehrten sich – mit Protesten und Petitionen, unterstützt durch ihre Arbeitgeber oder Gewerkschaften – und konnten bleiben. Andere reisten ab. Und manche kamen im Rahmen von Einzelverträgen wieder.
Ob sie zurückgingen, weiterzogen oder blieben – die Geschichten der Krankenschwestern aus Kerala sind es, mit denen das Online-Archiv WHO CARED startet.
„Brown Angels“ und wie WHO CARED entstand
Die deutsch-indische Ethnologin Urmila Goel – ebenfalls Teil des WHO CARED Teams – forscht seit Ende der 90er Jahre zur Migration der Krankenschwestern aus Kerala. Sie hält heute eine Professur am Institut für Europäische Ethnologie und fokussiert sich in ihrer eigenen Forschung weiterhin auf Arbeitsmigration, unter anderem im Kontext von Gender, vor allem aus Indien. http://asiannurses.de/
Das erste Projekt, dass die Geschichte der indischen Krankenschwestern für eine breitere Öffentlichkeit erzählte, war ein Dokumentarfilm. Auf ihren gelegentlichen Deutschlandbesuchen war die ebenfalls aus Kerala stammende Filmemacherin Shiny Jacob Benjamin einigen der Frauen und ihren Familien begegnet. Der einstündige Dokumentarfilm „Translated Lives – A migration revisited“ erschien 2013 und war vor allem für das indische Publikum bestimmt. https://www.youtube.com/watch?v=eiiGG5OIai0
Der Indian Express zitierte Benjamins Motivation damals mit folgenden Worten:
“The fact that these girls left for Germany at the age of 15 or 16 just after their SSLC is what attracted me to the subject. At a time when girls were not allowed to even set foot beyond their school or home, these girls were sent off to an alien land. I believe it is also the first women migration ever happened in the history of migration. They had no idea of Germany when they decided to go, no education to back them up and the language barrier was even worse. Except their resilience, they had nothing but they survived.“
Manoj Kurian, Gründer von Masala Movement e.V., und Ahjosh Elavumkal – beide Teil des WHO CARED-Teams – überarbeiteten den Film für ein europäisches Publikum. Der Titel „Brown Angels“ bezieht sich auf eine Bezeichnung, die in deutschen Medienbeiträgen über die Krankenschwestern aufgetaucht war. https://www.youtube.com/watch?v=-gL-RS_T9AU
Später wurde der Film auch im Rahmen der Foto-Ausstellung „Schwester Kerala“ im Rautenstrauch-Joest Museum gezeigt. Kuratiert hatten die Ausstellung Manoj Kurian Kalluparackal und Vineetha Dikanski (geb. Panalickal). https://manoj.eu/sister-kerala
Auf Basis der Forschung und Projekte dieser Personen entstand 2024 die Idee für das Online-Archiv WHO CARED.
Weitere Forschung zur Migration der keralesischen Krankenschwestern
Tobias Santosh Grossmann hat das Thema Pflegemigration aus Kerala in seiner Promotion zuletzt umfassend erforscht. Daraus ist das Buch „Fachkräftemigration – Pflegenotstand – Nächstenliebe
Katholische Frauen aus Kerala (Indien) in deutschen Krankenhäusern der 1960er“ entstanden. In einem persönlichen Video erzählt er von seiner Forschung, die auch aus seinem eigenen Leben spricht: https://www.youtube.com/watch?v=hOfd5Ei0pls
Philomina Bloch-Chakkalakkal ist wissenschaftliche Assistentin an der Hochschule für Soziale Arbeit der FHNW. In ihrem Buch „Unsichtbar unverzichtbar“ beleuchtet sie das Familien- und Berufsleben keralesischer Krankenschwestern in der Schweiz
Medienberichte
Das halbstündige ARD-Format „Past Forward“ erzählt die Geschichte der Krankenschwestern aus Korea, den Philippinen und Indien und setzt sie in Bezug zur heutigen Situation. Das Stück ist von 2022. Die Autorin Anna Dangel fasst am Ende des Films eindrücklich zusammen, worum es auch bei WHO CARED geht:
„Genügend Pflegekräfte hatten wir noch nie. Auch ausländische Pflegekräfte allein konnten den Pflegemangel damals und heute nicht lösen. Trotzdem sind die Krankenhäuser aktuell so angewiesen auf sie wie noch nie. Deswegen verdienen sie Aufmerksamkeit. Genauso wie alle anderen Pflegekräfte, die jeden Tag ihr Bestes geben. Was also hilft gegen den Pflegemangel? Bessere Arbeitsbedingungen und Anerkennung auf allen Ebenen.“
Der Mediendienst Integration hat ein umfangreiches und übersichtliches Factsheet “Ausländische Ärzte und Pflegekräfte” zusammengestellt, das laufend aktualisiert wird.
Weitere Fernsehbeiträge und Links:
- SWR Retro – Bericht über das Krankenpflegegesetz von 1965 https://www.ardmediathek.de/video/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9hZXgvbzExNTc5MjU
- How not to be deported: India’s nurses seeking work abroad learn how to migrate safely: https://www.theguardian.com/global-development/2025/mar/12/how-not-to-be-deported-indias-nurses-seeking-work-abroad-learn-how-to-migrate-safely?utm_source=chatgpt.com
- Triple-Win-Abkommen, 2023: https://www.tagesschau.de/wirtschaft/indien-pflegekraefte-100.html
- Indische Pflegerinnen in der Pfalz, 2024: https://www.swr.de/swraktuell/rheinland-pfalz/ludwigshafen/pfalz-indische-pflegerinnen-ueberwinden-sprachbarriere-und-erobern-herzen-100.html
- kohero – das Magazin für interkulturellen Zusammenhalt – hat dem Thema Care Migration eine eigene Ausgabe gewidmet: https://kohero-shop.de/products/12-who-cares
· Archiv des deutsch-indischen Magazins Meine Welt: http://meine-welt-online.de/
Pflegemigration heute
Bis 2049 fehlen Deutschland perspektivisch zwischen 280.000 und 690.000 Pflegekräfte. Das meldete das Statistische Bundesamt Anfang 2024.
Fast jede:r Fünfte Beschäftigte im Pflegesektor kommt schon jetzt aus dem Ausland. Im Jahr 2024 waren das um die 300.000 Menschen – mit überproportionaler Zunahme. “Das Wachstum der in der Pflege tätigen Personen geht seit 2022 ausschließlich auf ausländisches Personal zurück”, berichtet der Mediendienst Integration und führt weiter aus: Allein aus Indien habe sich die Zahl der Beschäftigten im gesamten Gesundheitswesen seit 2015 verzehnfacht.
Das liegt unter anderem am sogenannten Triple Win-Abkommen: Darüber werben die Bundesagentur für Arbeit (BA) und die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) seit 2013 gezielt Pflegekräfte aus Drittstaaten – außerhalb der Europäischen Union – an.
Das Abkommen spricht einerseits Menschen mit abgeschlossener Ausbildung an, die in Deutschland ihren Abschluss anerkennen lassen können. Andererseits werden seit 2023 erneut junge Menschen aus Kerala in Indien angeworben, um hier eine dreijährige Pflegeausbildung zu absolvieren. Zuvor hatte die GIZ ein Pilotprojekt dazu durchgeführt.
Triple Win heißt so, weil drei Seiten davon profitieren sollen:
- die Bundesrepublik und ihre Bürger:innen gewinnen gutes Pflegepersonal,
- Menschen aus den angeworbenen Ländern eine berufliche Chance und Herkunftsländer wie Indien könnten dadurch den eigenen Arbeitsmarkt entlasten.
Die Bundesagentur für Arbeit erklärt dazu, sich am Verhaltenskodex der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur internationalen Rekrutierung von Gesundheitsfachpersonal zu orientieren. Eine Liste der WHO gibt an, welche Länder besondere Unterstützung im Aufbau ihres Gesundheitssystem und ihr Pflegepersonal selbst dringend brauchen.
2023 änderte die WHO die Kriterien der Liste. Seitdem steht Indien nicht mehr darauf.